Als Vollzeit-Mutter zum Jagdschein
Einen Tag nach einem wunderschön Musical mit meinen beiden kleinen Kindern in Berlin und direkt vor Silvester habe ich beschlossen, gemeinsam mit meinem Mann, der ein aktiver Jäger ist, zusammen zu seinem Großcousin zu fahren, in ein Hochwild - (Rotwild) - Revier in Heinrichswalde. Als Jungjägerin stecke ich gerade mitten in meinem Jagdkurs, die Prüfungen finden in zwei Monaten statt, also heißt es nun, noch so viele Erfahrungen wie möglich mitzunehmen, zu sammeln und natürlich zu teilen, mit meinem Mann, der nebenbei mein Lehrprinz geworden ist. Weshalb ich nun einen Jagdschein erwerben möchte, ist einfach zu erklären:Als Mutter von zwei kleinen Kindern, als Ehefrau, Hunde-, Haus- und Pferdebesitzerin, als Arbeitende und nebenbei noch weitere musikalische Hobbys-Ausübende sowie stetig freundschaftliche Kontakte-Pflegende kann ich mich vor Langeweile zwar kaum retten, jedoch gibt es diesen einen einschlägigen Grund, nun eine gemeinsame Leidenschaft mit meinem Mann auszuüben:
Die Ausübung des Natur- und Tierschutzes. Wer einmal in der unbeholfenen Situation des vor sich angefahrenen leidenden Tieres war und nicht wusste, wie geholfen werden konnte, wird diese Augenblicke nicht mehr vergessen. Und wenn es nur Minuten sind, diesem einem Tier zu helfen, bedeutet dies doch ein Lindern des sich quälenden Augenblickes. Aber genug meiner Beweggründe, hin zu einem aufregenden und unvergesslichen Ereignis:
Wir hatten also folgenden Plan:
Die Kinder wurden in der Nähe bei meinen Schwiegereltern abgeladen, schnell Kaffee getrunken (als Eltern junger Kinder hat man grundsätzlich nie Zeit), alles noch einmal kurz abgesprochen und ab ging's los ins Hochwildrevier.
Dort angekommen haben wir ebenfalls noch einen Kaffee getrunken, Kuchen gegessen und unseren Plan für den heutigen Tag aufgestellt:
1. Revier anschauen fahren
2. Abendbrot essen (ein ganz wichtiger Teil des Plans!)
3. auf zur Jagd.
Wir haben uns also ordentlich angezogen, denn bereits bei der Revier-Erkundung war es ziemlich frostig, es sollte aber an diesem Tag nicht kühler und windiger werden als es schon war, doch war es schon kühl und kalt, also hieß es: ich als Frau erhalte einen Ansitzsack. Grundsätzlich halte ich nichts von Privilegierungen als Frau, wenn man sich in einem von Männern dominierten Umfeld bewegt, jedoch schien es mir dieses eine Mal eine schlaue Tat zu sein, an diesem Abend tatsächlich in einen Ansitzsack zu schlüpfen.
Ich sollte mit dem Großcousin gemeinsam auf einer (geschlossenen) Kanzel sitzen, ein weiterer Mitjäger sowie mein Mann auf jeweils (offenen) Kanzeln, so dass wir insgesamt als Dreier-Kombo ein Maisfeld zumindest zu drei Vierteln umschlossen. Ausgerüstet mit einem Fernglas und einer Flasche Wasser bestieg ich zuerst die Kanzel, danach folgte der Großcousin. Ganz leise konnten wir uns unterhalten, die Kanzel war ganz wunderbar mit Teppich verkleidet und ausgelegt, also erzählten wir von Früher und von Heute, hatte man sich ja lange nicht mehr gesehen, hatte man ja - wie oben beschrieben - kaum mehr Zeit.
Auf der zuvor erkundeten Fährte entlang des Maisfeldes haben wir bereits Schwarzwild-Trittsiegel ausfindig gemacht, also waren wir gespannt, was uns an dem Abend ereilen sollte, ist und bleibt die Jagd unberechenbar. Wir redeten also und beobachteten zuweilen die Umgebung durchs Fernglas, ab und an klappten wir eine der Klappen hoch und bedauerten regelmäßig die anderen beiden Jäger, die draußen auf ihren freien Hochsitzen saßen. Wir saßen seit kurz vor 19 Uhr und dann wurde es 21 Uhr, 21:05 Uhr, 21:10 Uhr und wir wechselten zwischen philosophischen Gesprächen über die Menschheit und den Geschehnissen, die wir durch unser Fernglas beobachteten: Ein Feuerwerk, das Jugendliche für Silvester probten, ein Fuchs, der quer übers Feld huschte sowie (unsichtbare) Enten und Gänse, die schnatterten und sich hörbar über uns amüsieren.
Mein Großcousin versuchte, aufgrund der zunehmenden Kälte, per WhatsApp die anderen Jäger zu motivieren und fragte, ob es denn sehr kalt wäre, ob wir abbauen sollten oder ob wir doch noch ein bisschen aushielten. Bei meinem Mann wurde die Nachricht gar nicht erst zugestellt, wir hatten tatsächlich ein sehr bescheidenes Netz, der andere Jäger antwortete ganz tapfer 'nein nein, geht schon' und Smiley mit schrägen Mundwinkel nach unten. Es wurde also 21:13 Uhr und wir waren ziemlich tiefgründig mit unseren Erzählungen, als plötzlich ein Schuss fiel. Wir hielten inne. Der Großcousin konnte sofort ordnen, dass der Schütze ausschließlich mein Mann sein konnte.
Natürlich war ich sofort stolz wie Bolle, wusste ich doch, dass mein Mann tatsächlich ein ausgezeichneter Schütze war und so bestätigte es sich auch beim Telefonat: 'Sau tot. Sau liegt.' Ab diesem Zeitpunkt waren wir heiß, heiß auf das, was kommen könnte, heiß auf das, was vielleicht noch passieren konnte. Noch während des Telefonats raschelte es im Maisfeld und ich raunte dem Großcousin zu: 'Nimm die Waffe hoch'. Mein Großcousin: 'Nein, nein, das ist noch zu früh.' Und siehe da, schon trottete die Rotte hinaus: Ein großes Stück, dann kleinere.
Zwar ermöglichte der Mondschein ein recht helles Licht, aber natürlich konnte man ein hundertprozentiges Ansprechen nicht gewährleisten. Die Sauen zogen und ich überlegte, die Waffe wurde schon bereits mitgeführt und anvisiert, wann es denn zum Schluss käme, ob ich mir lieber die Ohren zuhalten müsse, ob es sehr laut werden würde und wie einschneidend es doch sei, dass man der Natur nun ein Leben nehmen konnte. Während ich also so vor mich hin sinnierte und überlegte und die Rotte sodann über einen Graben wechselte, knallte es zum ersten Mal. Nachdem ich mich nach der Feuerzündung nun wieder in der Dunkelheit orientieren konnte, das Fiepen in meinem rechten Ohr ignorierend, beobachtete ich gebannt das weitere Geschehen durch mein Fernglas. Es stand für mich fest, beim nächsten Mal unbedingt die Ohren zuzuhalten. Ich sah, wie die Sau, die ich beobachtete, sehr flüchtig davonzog, als es bereits das nächste Mal knallte.
Ich hielt mir dieses Mal klugerweise die Ohren zu und beachtete weiterhin die Rotte durch das Fernglas, als es zum dritten Mal knallte. Es handelte sich um Sekundenbruchteile. Doch während dieser Sekundenbruchteile schossen mir viele Gedanken durch den Kopf, mein Herz pochte, das Adrenalin floss durch meinen Körper. In diesen einzelnen Sekunden konnte ich also entscheiden, welches Stück ich beschoss, ob ich ein Stück beschoss und wie ich ein Stück beschoss.
Ich wusste auch, es gab Vieles zu erzählen und (für mich) auszuwerten, doch das war im Moment nachrangig. Die Waffe wurde durch den Großcousin stets durchrepetiert weitergeführt und schließlich heruntergenommen, ich atmete innerlich aus und fragte sofort: 'Warst du aufgeregt?' Die Antwort kam prompt: 'Kar, aber mir ist auch verdammt kalt'.
Wir erkundeten sofort mit dem Fernglas, ob und wie viele Sauen lagen, tatsächlich konnten wir eine Sau auf dem Boden liegend identifizieren.Als Frau mit ihrer naturgegebenen sentimentalen und emotionalen Ader war für mich stets von Bedeutung, ob das Tier vor Schmerz in seinen letzten Atemzügen geschrien hat oder ob es sofort zu Tode kam. In diesem Fall vernahm ich nichts. Kein Laut war zu hören. Außer dem vorangegangenen Rascheln, dem anschließenden Knallen, hörte ich in diesen letzten Minuten nichts.
Das weitere Vorgehen erfolgte routiniert: Es wurde sich telefonisch in Verbindung gesetzt, das Geschehen wurde kurz dargelegt, wir verharrten noch kurz auf dem Hochsitz, denn es herrscht der allgemeine Grundsatz: Lasst das Tier in Ruhe zu Tode kommen.
Folgender Plan wurde aufgestellt: Wir, die wir das Auto an unserem Hochsitz abgestellt hatten und die Männer zuvor lediglich rausgeworfen hatten, sammelten sie an ihren Hochsitzen ein. Und hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich vermutet, zwei hochgewachsene grünplüschige Yetis vor mir zu haben, aber ich vermeide an dieser Stelle lieber einmal weitere Ausführungen meinerseits, die besagten Männer könnten ja meinen Bericht lesen und möchte ich doch in naher Zukunft zu meinem Geburtstag schließlich einen eigenen Ansitzsack geschenkt bekommen.
Wir fuhren zum Haus des Großcousins, hingen seinen Anhänger hinten an, und sammelten die zehnmonatige Deutsch-Drahthaar-Hündin ein (übrigens die Schwester unseres Rüdens, so schließt sich auch hier wieder ein Beziehungskreis), um ihr ihre erste Todsuche zu ermöglichen.
Zurück am Tatort erfolgte eine kurze und schnelle Nach-Todsuche, die eine Sau wurde gefunden, eine weitere jedoch nicht. Der Überläuferkeiler wurde auf den Anhänger gelegt und so wurde zum Hochsitz meines Mannes weitergefahren, auch hier wurde die Sau unmittelbar gefunden, auch hier handelte es sich um einen 3 bis 4 Jahre alten Keiler, der auf den Anhänger gehievt wurde. Nach den Aufbrüchen wurde anschließend zurückgefahren.
Zu Hause angekommen wurden die beiden Sauen aufgehängt und wir betranken sie zu Ehren mit Jägermeister am Lagerfeuer und berichteten nun jedermann von unseren Erfahrungen. Für mich gab es Vieles zu verarbeiten. Mittlerweile war es 1:30 Uhr, auch der letzte kalte Finger war wieder aufgewärmt und so ging ein Abend voller Ereignisse zu Ende.
Am nächsten Morgen nach einem gesunden Frühstück bereiteten wir uns nach einem nochmaligen Absuchen des Geländes einer etwaigen doch noch geschossenen Sau (nun wieder in de Rolle des Elternpaares) darauf vor, unsere Kinder abzuholen.
Beim Verabschieden drückte mir der Großcousin die Hülse der abgeschossenen Patrone jener ersten Sau in die Hand und wünschte mir ein kräftiges Waidmannsheil für die Prüfung mit den Worten 'Denke immer daran, dass du dir bewusst sein musst, der Natur ein Leben zu nehmen und erst dann einen Schuss abgeben solltest, wenn du dir sicher bist.'
Diese Worte klangen mir noch weiter hin nach und mit der Hülse in der Hand hieß es nun:
Ab in die Mutterrolle, ab in den Alltag und auf in die Jägerprüfung, die in zwei Monaten ansteht. Und wie man sieht, scheint es sich nicht auszuschließen, als Vollzeit-Mutter, Hobby-Passionierte und verantwortungsvolle Tierliebhaberin auch hegeambitionierte Jägerin (mit Ansitzsack!) zu werden. Die Hülse wird nun Teil meines Jagdrucksackes und mich auf den weiteren jagdlichen Wegen begleiten. Lena Kristina Kemper