"Drei Euro und sechsundneunzig Cent"
Zwei Jägerinnen besprechen einen Lernort-Natur-Einsatz in der Station der Naturwacht Berlin Marienfelde, als aus dem anliegenden Freizeitpark aufgeregt eine Joggerin auf die beiden zusteuert. Einen Frischling mit „irgendwas am Hals“ habe sie gesehen, er könne nicht mehr aufstehen, die Jägerinnen sollten schnell kommen. Kurze Zeit später entpuppt sich der Frischling als Bockkitz, das etwa zehn Meter neben einem Weg im schattigen Gras eines Baumes liegt. Es habe vorher in der prallen Sonne gelegen, daher habe sie es umgetragen, sagt die Joggerin. Dabei habe sich die Rehmutter im Hintergrund gehalten und immer wieder nach dem Kitz gerufen.
Den Hals hält das Kitz seltsam nach hinten gebogen und verdreht. Beim Abtasten des Halses ist kein Knochenbruch spürbar. Eine Bisswunde ist auch nicht ersichtlich. Der kleine Bock klagt nicht, scheint also keine Schmerzen zu haben. Äußerlich ist die Ursache für die seltsame Haltung nicht festzustellen. Die Jägerinnen entschließen: Ein Tierarzt soll drauf sehen. Falls dann das Kitz zu retten ist, wird es aufgezogen.
Die Tierärztin stellt zunächst dasselbe fest, wie die Jägerinnen: Knochen intakt. Als Ursache vermutet sie ein Hirntrauma. Der Haltungsfehler wird nicht durch Knochen oder Muskel generiert, sondern durch das Gehirn.
Doch was ist dem Kitz zugestoßen?
Plötzlich sieht die Ärztin eine frische Bisswunde unterhalb des linken Lauschers (Ohres). Auf der rechten Kopfseite ist ein frischer Kratzer unter dem Auge zu sehen. Sie rekonstruiert: „Es könnte ein Hund gewesen sein, der den Kopf gegriffen und einmal geschüttelt hat. Das würde ausreichen.“ Die Folge des Schüttelns: Das Hirn schwillt an und drückt von innen an den Schädel. Wahrscheinlich sei der motorische Teil des Hirns betroffen. Cortison könne helfen. Da die Ärztin das Trauma aber als „schwer“ einschätzt und die Wahrscheinlichkeit der Regeneration als „eher klein“, nennt sie auch gleich die zweite Lösung: Einschläfern.
Schweren Herzens entscheiden sich die Jägerinnen dafür. Die Spritze betäubt das Kitz. Nach einigen Minuten hebt sich der Brustkorb nicht mehr. Die Ärztin stellt fest: Das Herz steht. Sie berechnet nur das Medikament. Drei Euro und sechsundneunzig Cent kostet es, seinen Hund in einem Gebiet laufen zu lassen, in dem eigentlich Leinenpflicht gilt - und ein Rehleben.