Denn es kommt nicht immer auf das Schießen an
Ich habe Besuch. Von Jenny aus München, die zusammen mit ihrem Hund Alvin hier ist. Alvin ist der Bruder von meiner Hündin Aletta und wir kennen uns von Welpenbesuchen bei der Züchterin. Jenny ist als einzige Nichtjägerin tapfer Mitglied in der kleinen WhatsApp-Gruppe, in der es um den Erfahrungsaustausch und die Ausbildung unserer Jagdhunde geht, geblieben. Vor drei Tagen dann der Anruf: 'Anika, ich bin auf dem Rückweg von meinen Eltern und könnte auf der Strecke bei dir vorbeikommen. Ich möchte gerne mehr über die Jagd erfahren. Seit einem Jahr lese ich jetzt eure Erfahrungen mit - da steckt ja viel mehr dahinter, als ich immer dachte!'
Ich freue mich über ihren Anruf und sage zu. Für die Hunde ist es ein großes Fest, sie tollen und spielen miteinander, bis sie völlig ausgepowert sind. Wir verbringen den Nachmittag grillend auf der schattigen Terrasse. Dass es als Fleisch selbsterlegtes Wildbret gibt, ist der Tiefkühltruhe zu verdanken, in deren Tiefe ich noch ein Stück vom zuletzt erlegten Überläufer entdecke. Ich stelle stirnrunzelnd fest, dass meine TK-Truhe aber gänzlich leergegessen aussieht und wohl dringend wieder gefüllt werden muss, wenn ich die Grillsaison weiter fortsetzen möchte. Heute ist ein guter Tag dazu. Ein kleines Gewitter am Nachmittag, schwülwarme Luft, ein voller Mond am Himmel -ich bin sehr zuversichtlich.
Wir lassen die Hunde zur Wohlfühl-Betreuung bei meinen Eltern und fahren das kurze Stück in den Wald hinaus. Dort packen wir Rucksack, Waffe und den wichtigsten Gegenstand zum Ansitz aus: Mücken-Abwehrspray. Wir wollen schließlich weder dauernd mit der Hand vor dem Gesicht wedeln, noch gestochen werden. Mit neuer Duftnote umhüllt schleichen wir möglichst lautlos dahin, tauchen in das dichte Blätterwerk ein, einem schmalen Pirschweg folgend. Leise den Sitz erklommen - was man in etwa mit 'nur einmal laut mit dem Fernglas am Holz angestoßen, das Sitzbrett knarrend heruntergelassen und mühsam das Lachen verkneifend' gleichsetzen kann - nehmen wir unseren Platz ein. Wir machen noch schnell ein obligatorisches Selfie, das natürlich etwa zwanzig vorangehende Probeaufnahmen bedeutet - wir sind Frauen, ne?
Ruhe tritt ein. Immer wieder kontrollieren wir mit dem Fernglas die Waldränder, noch ist nichts zu sehen. Leise flüsternd beantworte ich Jennys Fragen, sie hat viele davon. Ich freue mich über ihre Neugierde an der Jagd, mehr darüber erfahren zu wollen, warum wir manche Sachen eben so und nicht anders machen. Sie ist bereits gut vorbereitet, weiß schon viel und hat wohl auch schon bücherweise gelesen - anders kann ich mir ihren doch schon erstaunlichen Wissensschatz nicht erklären.
Es ist bereits dunkel geworden. Ein Reh können wir schon nicht mehr erlegen, hoffen aber auf den Besuch von Sauen in der vom Regen der letzten Tage feuchten Wiese. Wir sitzen. Und warten. Freuen uns, einen Waldkauz beobachten zu können - unseren Vogel des Jahres, der immer wieder dicht an uns seine lautlosen Runden zieht und einmal sogar fast bei uns in der Kanzel landet, um sich dann im letzten Moment für den Fichtenzweig neben uns zu entscheiden. Jenny und ich sitzen in dem Moment senkrecht da, starren erst den Kauz und dann uns gegenseitig an und müssen grinsen.
Die Nacht ist wunderbar tropisch warm, wir können im T-Shirt da sitzen und warten. Da! Ein deutliches Rascheln des Zweiges, dicht hinter der Kanzel. Wir verharren reglos und starren in die Sommernacht. Nichts regt sich. Kaum wagen wir auszuatmen, hören wir in der Ferne ein aufgeregte Bellen, in dem ein weiteres Tier einsetzt. 'Das sind Rehe', flüstere ich Jenny zu. Ich sehe, wie sie leicht ungläubig den Kopf schüttelt. 'Rehe können so bellen?' fragt sie leise. 'Ja. Man nennt das 'Schrecken'. Das ist ein Warnlaut, den sie zum Beispiel ausstoßen, wenn Sauen in der Nähe durchziehen. Vielleicht haben wir ja Glück und es tauchen hier doch noch welche an der Wiese auf.' Im fahlen Mondlicht sieht man auf einmal immer mehr von den kleinen leuchtenden Punkten, die sich wie Irrlichter auf und ab bewegen. 'Glühwürmchen!' ruft Jenny entzückt. Ich muss schmunzeln, konnte ich dieses Schauspiel doch schon die Tage davor mehrmals genießen. 'Schön, oder?' frage ich sie. Jenny nickt stumm. Ich merke, dass sie dieser Anblick sehr berührt. Wir sitzen still nebeneinander. In Solchen Momenten kann man seinen Gedanken freien Lauf lassen, seinen Stress oder seine Sorgen ablegen und wieder neue Energie sammeln - es ist fast so, als könnten diese kleinen schwebenden Lichter sie auf uns übertragen.
Deutliche Klänge des fern gelegenen Dorffestes hallen immer wieder an unsere Ohren. Wir warten weiter. Kurz vor Mitternacht. Ich schaue Jenny an, flüstere: 'es ist hell genug, weiter sitzen zu bleiben' ich traue mich den nächsten Satz fast nicht zu sagen: 'wir könnten aber auch die Waffe in den Tresor heimbringen, die Hunde holen und noch eine Runde auf das Fest gehen.' Völlig unjagdlich. Ich beiße mir fast auf die Zunge. Jenny ist schließlich nicht hier, um feiern zu gehen. Sie lächelt aber und nickt. 'Guter Plan!' Wir verlassen so leise, wie wir gekommen sind unseren Hochsitz um zu meinem Auto zu gelangen. Nicht weit davor haben wir Blick auf eine weitere Wiese mit einem bereits abgeernteten Weizenfeld. Ha! Eindeutig zwei bis drei dunkle schwarze Silhouetten zu erkennen! Mein Puls beschleunigt sich. Die Sauen werden hier doch nicht gerade genüsslich alles in eine Kraterlandschaft verwandeln? Ich lege das Fernglas auf meinem Pirschstock auf, um weniger zu wackeln. Haben die Umrisse sich jetzt bewegt oder nicht? Ich gebe Jenny das Glas, zeige mit der Hand in die Richtung und deute ihr an, dass es sich hierbei um Sauen handeln könnte. Fast im Kriechgang überwinden wir die fünf Meter Freifläche, auf denen auch wir im Mondlicht gut sichtbar dargestellt werden. Am nächsten Baum angekommen, starren wir wieder auf die dunklen Umrisse. Bewegen sich nicht. Nach einer gefühlten Ewigkeit atme ich aus, senke das Fernglas. 'Das sind keine Sauen', sage ich normal laut. Jenny guckt mich entgeistert an. Ich wühle im Rucksack nach meiner Taschenlampe, die wie immer, wenn man sie mal braucht, ganz nach unten gerutscht ist - und so ein Damenrucksack ist voll gefüllt. Endlich kann ich sie ertasten und schalte sie ein. Im hellen Schein fokussieren ich ein paar Pflanzen im Gras. 'Das sind unsere Sauen. Unkraut. Da haben wir uns schön täuschen lassen.' Wir lachen noch am Auto über unsere Fantasie und fahren nach Hause.
Wir erreichen tatsächlich das Dorffest - zwar ungestylt und in Jagdklamotten, dafür aber noch rechtzeitig, um die letzte Runde Cocktail, Blasmusik und Pommes mitzunehmen. Wieder daheim angekommen, sitzen wir noch eine Weile erzählend auf der Terrasse. Sind wieder bei jagdlichen Themen, reden und genießen die warme Sommernacht. Frühansitz fällt aus. Zum einen, da uns nur noch eine halbe Stunde vom erneuten Waldgang trennen würde, wie wir einem ungläubigen Blick auf die Uhr entnehmen können, und zum anderen natürlich aufgrund der Tatsache, dass der kürzlich konsumierte Drink ja sicherlich nicht binnen einer Stunde wieder abgebaut sein würde. Das ist zwar von der Menge her nicht viel, aber kurz darauf eine Waffe zu führen ist ein absolutes NoGo.
Wir beschließen, uns alternativ dazu vier Stunden schlafen zu legen und stellen uns den Wecker entsprechenden 'spät' auf halb acht morgens.
'Frühstücken tun wir später, OK? Wir legen Aletta eine kurze Übungsfährte und gehen eine Runde Gassi mit den Hunden' schlage ich Jenny vor. 'Dann parken wir vorne am Waldrand, da kommst du mit deinem auch Auto gut hin.' Ich zeige Jenny, wie ich für das Training von Aletta die Fährte lege - mit Hilfe von Rinderblut und kleinen Markierungsbändchen, die mir in ein paar Stunden bei der Suche Sicherheit geben und den richtigen Verlauf zeigen sollen. Besser ist es natürlich noch, wenn einem eine dritte Person die Fährte legt, im Ernstfall muss ich ja auch meinem Hund vertrauen und ihn 'lesen lernen'. Da in der Realität oft auch eine Nacht oder einige Stunden dazwischen liegen, was die Suche erschwert, trainiert man das dann auch entsprechend mit dem Hund. Aletta soll diese hier erst abends suchen.Danach starten wir mit den Hunden in eine ausgedehnte Gassi-Runde. Zurück an den Autos freuen wir uns auf Kaffee und frische Semmeln vom Bäcker - es ist inzwischen fast elf Uhr und unsere Mägen knurren schon hörbar. Während ich die Hunde ins Auto bringe, sehe ich aus den Augenwinkeln Jenny ausparken. Sie möchte zum Wenden rückwärts auf den parallel verlaufenden Schotterweg fahren. Einen Augenblick lang denke ich mir noch 'das kleine Stück dazwischen ist aber immer verdammt nass', da sehe ich ihr Auto auch schon einsinken.
Ich eile zu ihr. Sie hat die einzigen drei Meter weichen Waldboden exakt getroffen - überall sonst ist es griffig und trocken. Vorwärts, Rückwärts, wenig Gas, soviel ist uns klar - nichts geht mehr. Dass ihre Hinterreifen bereits auf festem Boden stehen ändert nichts an der Tatsache, dass sich ihre Antriebsachse soeben bodennah hineingegraben hat. Ich drücke, schiebe -nichts. Festgefahren. Dafür fängt ihr Auto auf einmal an zu stinken -und zu qualmen. 'Aah! Es qualmt!' Jenny springt aus dem Auto, wir öffnen die Motorhaube aus der sich gerade ihre Kupplung sehr missmutig Luft macht. Ich sehe vor meinem inneren Auge bereits einen Feuerwehr-Großeinsatz vor mir und überlege, ob mein 5-Liter Hundewasserkanister zur Erstbekämpfung ausreichen könnte. Wir starren wortlos auf das nun zum Glück nicht weiter qualmende Auto. Dass mein Geländewagen in der Nähe steht, verbessert nicht die Lage - wir haben nur Hundeleinen und kein abschlepptaugliches Seil dabei. 'Waidmannsheil Jenny, du hast gerade dein Auto erlegt. Ich rufe mal meinen Jagdherrn an', seufze ich.
Kurz darauf sehen wir ihn mit seinem grünen Jimny um die Kurve kommen. Er steigt aus, betrachtet unsere missliche Lage und ich meine ein leichtes Lächeln in seinem Gesicht zu sehen. Vermutlich fällt es ihm gerade schwer, ernst zu bleiben ob der zwei blonden Frauen, die da hilflos vor ihm im Revier stehen. Schnell ist die Seilwinde an Jennys Auto befestigt und sie steht wieder auf festem Boden. Erleichterung macht sich breit, zumal auch ihr Auto sich wieder fahrbereit und ohne sichtbare Folgeschäden zeigt. Wir fahren nun wirklich hungrig nach Hause, um uns endlich zu stärken. 'Das könnte fast an mir liegen, dass du dich vorhin festgefahren hast' stelle ich, auf meinem Marmeladenbrötchen kauend fest. 'Ich weiß' antwortet Jenny. Ich höre auf zu kauen und schaue sie verwundert an. 'Das hat dein Papa auch gerade zu mir gesagt. Du scheinst so etwas wohl magisch anzuziehen.' Ich gucke empört, sie lacht.
'Schade, dass wir gestern außer Waldkauz und Glühwürmchen keinen Anblick hatten' sage ich beim Abschied zu ihr. 'Ach weißt du, wir haben so viel geredet und du hast mir jede Menge erklärt -das hat auch so total viel Spaß gemacht!' antwortet sie fröhlich. Wir vereinbaren, uns bald mal wieder zu sehen und weiter in Kontakt zu bleiben. Alles richtig gemacht, denke ich mir: Denn es kommt nicht immer auf das Schießen an. Anika Klein