Jagd erleben
Seit Mai 2018 begleite ich in regelmässigen Abständen einen Jäger in seinem Revier. Sein Name ist Niklaus und er hat ein unheimliches Wissen über Fauna und Flora und jagdliches Brauchtum. Wir haben uns in der Bäckerei, in der ich am Samstag immer arbeitete kennengelernt. Auf meine Frage, ob ich ihn evtl mal zu einem Morgen- oder Abendansitz begleiten dürfte, kam spontan die Antwort: Sehr gerne. Morgen früh um 4.30 Uhr treffen wir uns.
So war es dann auch. Pünktlich um 4.30 Uhr war ich am Treffpunkt. Wir bezogen eine Kanzel, versteckt in den Tannen, und hatten freie Sicht auf eine Wiese. Der Morgen erwachte langsam, die Vögel zwitscherten. Von weitem hörte man eine Taube gurren. Die Sonne brach mit ihren Strahlen durch die Baumwipfel. Eine Amsel suchte im Gras nach ihrem Frühstück. Von links hoppelte eine Feldhase den Schotterweg rauf, verweilte kurz und verschwand im Dickicht. Immer wieder hielten wir Ausschau. Der Feldhase kam ein weiteres Mal auf den Weg und blieb hier sitzen. Es war eine Freude, dem Kerlchen zuzuschauen. Gegen 8.30 Uhr verließen wir die Kanzel. Ich war ganz im Glück.
Bei einem weiteren Ansitzen erblickten wir Eichhörnchen, die auf dem Waldboden umher tobten, unter der Kanzel einen Radau machten und dann blitzschnell an den Buchenbäumen hinauf zu kletterten. Bei beginnender Dämmerung nahmen wir beide eine Bewegung am äusseren Waldrand wahr. Wir konnten aber nicht ausmachen, was es war. Mit der Zeit kam der Rehbock durch eine kleine Gasse. Rieb sich sein Gehörn an einem kleinen Busch und stand immer recht ungünstig für den Jäger. Was man beim Ansitzen lernt: Ruhe bewahren und warten. Der Rehbock lief am unteren Waldrand auf eine Wiese um zu äsen. Es war einfach nur schön dem Tier zu zuschauen. Dann hatte der Bock die perfekte Position. Niklaus legte an und streckte den Bock nieder. Was für ein Erlebnis. So nah war ich noch nie dabei. Beim anschliessenden Aufbrechen durfte ich zuschauen.
Jeder Ansitz hat seine ganz eigene Faszination. Sei es, wie man sieht, wie die Sonne aufgeht oder Abends wieder untergeht. Wie der Wald sich mit jeder Stunde verändert. Welche Geräusche man wahrnimmt. Wie sich die Augen an die beginnende Dunkelheit gewöhnen. Welche Gerüche die Nase wahrnimmt. Jedesmal ist es wie neue Kraft tanken.
Vor acht Wochen hätte ich meinem Jäger keine größere Freude machen können, als ich ihm sagte, dass ich den Jagdschein machen werde. Und zwar nächstes Jahr. Bei der Jagdschule habe ich mich angemeldet und schon bei zwei Drückjagden teilgenommen. Nun darf ich Niklaus schon ein bißchen in seinem Revier unterstützen. Sei es beim Weißtannen pinseln, die Kirrung ausbringen oder einfach nach dem rechten sehen.
Ich freue mich jedenfalls sehr, dass ich ihn als Lehrprinz habe.
Von Manuela Kossack