(M)ein Ringen mit der Natur
Was bitteschön trägt man bei einer Drückjagd? Ein prüfender Blick aus dem Fenster, es sieht kalt und neblig aus - Novemberwetter. Ich entscheide mich für hohe Schaftstiefel gepaart mit einer olivfarbenen Hose und Jacke. Auf dem Weg zum Auto merke ich: Es ist wirklich kalt. Es kommen Handschuhe und Mütze dazu. Auf dem Weg zum Jagdgebiet, der langen Rhön, denke ich an Jagdunfälle, an erschossene Treiber, Sprüche wie 'Jäger sind Mörder' oder 'Hegen und Pflegen'. 'Achtung Jagd!', warnen mich Schilder. Ich bin angespannt, je näher ich dem Ausgangspunkt für die Drückjagd komme.
Als ich schließlich auf den Franzosenweg einbiege, sehe ich zunächst nur leuchtendes Orange aus dem grauen Nebel strahlen. Hier herrscht ein Gewirr von Menschen, Autos und Hunden. Der Klischee-Jäger mit Pfeife und Lodenmantel ist hier nicht. Er trägt jetzt Funktionskleidung in Leuchtfarben. Ein auf neon-orangefarbigem Stoff gedrucktes Astmuster kann doch keine gute Tarnung sein, denke ich mir. Mir wird erklärt: Die Warnfarbe ist notwendig, um die Treiber nicht mit dem Wild zu verwechseln. Ich blicke an mir herunter: Ich bin in oliv so gut getarnt, dass ich mich selbst kaum sehe.
Jemand leiht mir eine orange Warnweste. Enno Piening, der Vizepräsident des Landesjagdverbandes Bayern erklärt mir, um was es geht: 'Das Gebiet der langen Rhön ist die einzige außermontane Region in Bayern, in der das Birkwild brütet und überhaupt noch vorkommt. Dabei handelt es sich um Bodenbrüter; sprich, ihr Gelege auf dem Boden wird von Füchsen, Waschbären und Wildschweinen gerne gefressen. Um das einzudämmen, werden diese Tierarten heute bejagt. Dazu scheuchen wir das Wild mit Treibern, Hunden und Lärm auf, um es vor die Jäger zu treiben, die es dann waidgerecht erlegen können.'
Ohne Kontrolle geht nichts: Die Jagdscheine bitte. Jeder zeigt seinen Jägerausweis. Die Gruppen werden eingeteilt, während sich der Nebel lichtet. Ich sehe mehr, friere aber weiter, meine Finger sind klamm. Endlich geht es los, ich werde die Gruppe von Enno Piening begleiten, die sich aus insgesamt sieben Personen zusammen setzt. 'Falls ein Wildschwein einen Treiber angeht', erklärt Herr Piening, 'sind drei bewaffnete Jäger als Treiber dabei'. Als er sein Gewehr lädt und schultert weiß ich - es wird ernst.
Im Gegensatz zu den anderen Treibergruppen, die ihre Reviere mit Allradjeeps anfahren, erreichen wir unser Gebiet zu Fuß. Auch hier offenbart sich mir wieder, dass die Jagdkleidung der Evolution unterliegt: Wasserdichte Gamaschen und hochfunktionales Schuhwerk sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Ich frage mich, ob meine Schuhwahl die richtige war. Von der Seite höre ich Piening rufen: 'Passen Sie später auf die Wasserlöcher und Sumpfflächen auf!' Offenbar können Jäger nicht nur Fährten, sondern auch Gedanken lesen.
Auf dem Weg ins Revier erzählt man sich allerlei Jagdgeschichten. Jägerlatein? Fehlanzeige. Keiner protzt mit Rekordabschüssen, vielmehr handelt es sich um unterhaltsame oder taktische Angelegenheiten. Auffällig ist: Die Jäger pflegen eine eigene Sprache. Ich kann aufgrund meines begrenzten Jagdwortschatzes nur teilweise folgen. Abgesehen davon gehen mir zu viele Gedanken durch den Kopf. Eine der Geschichten bleibt jedoch hängen: Einer der Hundeführer wurde vor kurzem bei einer Jagd von einem Wildschwein attackiert.
Enno Piening teilt die Laufrouten unseres Trupps ein. Aufrecht gehen ist jetzt vor bei. Es geht ins Unterholz. Ich drücke Äste zur Seite, ducke mich weg, der Tragegurt meiner Kamera verfängt sich ständig im Geäst, ich verliere die übrigen Treiber aus den Augen. Immer wieder fluche ich im Stillen. Würde man meine Bewegungen mit denen von Enno Piening vergleichen, gäbe es exakt ein treffendes Wort: ungelenk. Er wuselt mit 'Hussa-sa-sa-sa' Rufen mühelos durch das Gewirr von Ästen und Dornenranken. Ich habe meine Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Ab und an klopft er mit einem Ast an die Bäume im Dickicht, um das Wild aufzuschrecken. Ich bin angespannt, habe das Gefühl, dass jeden Moment ein Tier aus dem Dickicht hervorbrechen könnte. Aber es bleibt ruhig, abgesehen von den Klopfgeräuschen und Rufen der anderen Treiber.
Plötzlich zerreißt ein Schuss die ungewöhnliche Geräuschkulisse. 'Der Schuss hat gesessen, man hat deutlich den Kugelschlag, also den Aufprall auf das Tier gehört', erklärt mir Enno Piening. Endlich lichtet sich das Geäst und wir erreichen eine freie Fläche. Als ich vom geduckten in den aufrechten Gang wechseln kann, die anderen Treiber wieder sehe, atme ich erleichtert auf. Zu früh - ich sinke knöcheltief im feuchten Untergrund ein. Mit einem Schmatzen ziehe ich meine Füße aus dem Sumpf. Gut, dass ich meine Stiefel gestern noch imprägniert habe, denke ich.
Mein Blick schweift über die weite Ebene, um an den mit Schützen besetzten Hochsitzen hängen zu bleiben. Fast scheint der Jäger auf seiner Kanzel über dem Dunst zu schweben. Enno Piening ist derweil in seinem Element. Er liest Spuren. 'Die Spuren sind frisch, das Wasser das in ihnen steht ist noch trüb', erklärt er mir. Bei meinem Weg durch das sumpfige mit Wasserläufen- und löchern gespickte Terrain muss ich zwangsläufig Blickkontakt zum Boden halten. Ich versuche mich darin, die im Crashkurs erläuterten Fährtenmerkmale zu erkennen und zu deuten.
Mittlerweile hat es zu schneien begonnen. Es raschelt: Plötzlich springen Rehe aus dem hohen Gras. Bis ich meinen Fotoapparat parat habe, sind sie schon verschwunden. Die Hundeführer rufen ihre Tiere zu sich, Rehe werden heute nicht bejagt.
Unsere Treibergruppe sammelt sich. Alle sind sich einig: Den Fährten nach zu urteilen müssen in dem Gebiet viele Wildsäue sein. Deshalb lautet die Order: in die Breite ausschwärmen. Das hat Erfolg, ein Treiber sichtet ein großes Wildschwein: Aufregung bricht aus. Die Hundeführer lassen ihre Tiere Witterung aufnehmen. Statt deren Fell blitzt nun nur noch gelegentlich ein Stück der neonfarbenen Hundeschutzwesten durch das fahle Gras. 'Sie ist da hoch!' hallen Rufe über die weite Fläche. Blicke kreisen umher, man versucht eine Bewegung im Gras auszumachen, doch nichts rührt sich. Auch ich drehe mich angespannt um die eigene Achse. Ich muss an den Hundeführer denken. Bei der Vorstellung, von einem wilden Tier angegriffen zu werden, wird mir flau. Nach einer Weile werden die Chili, Amun und Odin zurückgepfiffen. Sie folgen aufs Wort, ich staune - denn solche Hunde habe ich bislang noch nicht kennengelernt.
Die Anspannung fällt ab, die Gesichter entspannen sich. Einer unserer Hundeführer, Wilfried Helfrich, zückt sein Smartphone: 'Sie ist vermutlich da entlang'. Auf meinen fragenden Blick erklärt er mir, dass sein Hund am Halsband einen GPS-Sender trägt. Mit dem Smartphone kann er die Laufwege seines Hundes auf den Meter exakt nachverfolgen. Jetzt ist also auch die Jagd digitalisiert. Enno Piening drängt zum Aufbruch, die Sau muss bei der Drückjagd auf den Läufen gehalten werden.
Es geht weiter, durch Sumpf und Matsch. Ich verliere mich in der Weite der Landschaft beim Versuch, einen Fixpunkt auszumachen: Wäre ich alleine hier oben - ich wäre orientierungslos. Zwangsläufig kommt in mir die Frage auf, wie viele Kilometer ich bereits zurückgelegt habe. Auch mein Zeitgefühl ist mir im grauen Schneetreiben abhanden gekommen. Hin und wieder hallen einige Schüsse aus der Ferne zu uns herüber. Schließlich fällt auch bei uns ein Schuss - Treffer. Das Tier geht zu Boden.
Von meinem Standpunkt aus kann ich es nicht sehen, das hohe Gras weht wie ein Vorhang vor dem erlegten Tier. Fünf Mann unseres Trupps mühen sich ab, das Wildschwein zu einem nahe gelegenen Weg zu tragen, von wo aus es mit einem Geländewagen abgeholt wird. Auch die Jagdhunde verhalten sich ruhig, keiner beißt, oder reißt am erlegten Tier. Vorsichtig und respektvoll legen die Jäger die Beute am Wegesrand ab.
Keiner bricht in Jubelgeschrei aus, keine abfälligen Sprüche fallen - mir wird klar, dass es bei der Jagd nicht um stumpfes, rambohaftes Geballer oder Lust am Töten geht. Das Tier war sofort tot. Für einen derart präzisen tödlichen Schuss auf ein sich bewegendes Ziel gehört mehr dazu, als blind den Abzug zu betätigen.
Als wir das Ende unseres Reviers erreichen, ist nichts an mir mehr trocken: Schuhe, Kapuze, Mütze sind vom Schneeregen durchnässt. Wir brechen zu Fuß zu den vorab in der Nähe abgestellten Autos auf. Die erste Aktion der Fahrer: Das Anschalten der Heizung. Jeder ist klamm vor Kälte und Nässe. Am Parkplatz angekommen, wechsele ich als erstes meine Socken und das Schuhwerk. Einige Treiber tun es mir gleich. Ein allgemeines Seufzen 'endlich wieder warme Füße' geht durchs Auto. Nach der kurzen Umkleidepause auf dem Parkplatz an der Schornhecke geht es los zum Legen der Strecke.
Die Jeeps parken in Reih und Glied neben einem rechteckigen Bett aus Fichtenzweigen. An jeder Ecke lodert eine Fackel. Auf den Zweigen werden nach und nach die erlegten ausgeweideten Tiere gebettet. Die aufgebrochenen Bäuche der vier Schweine sind auf den ersten Blick nicht zu sehen. Ohne das Wissen um die vorausgegangene Jagd, könnte man davon ausgehen, dass es sich um sehr realistische Plastiken handelt.
Einige Jäger nähern sich mit kleinen Kanülen den Tieren und streifen etwas Blut ab für den Test auf die aujeszkysche Krankheiten. Die Jäger machen freiwillig mit und unterstützen damit wissenschaftliche Erhebungen der Veterinäre und betreiben aktives Seuchenscreening. Bei dieser Untersuchung handelt es sich um ein für viele junge Säugetiere gefährliches Herpesvirus. Eine Ansteckungsgefahr für den Menschen besteht nicht. Besonders bedroht sind die Jagdhunde durch den direkten Kontakt zum Wild. Allerdings muss die Virenkonzentration hier hoch genug für eine Infektion sein.
Ein weiterer Faktor, der ausschlaggebend für die Übertragung der Krankheit ist, stellt die Aktivität des Virus dar. Denn ähnlich wie Herpes beim Menschen, ist Aujeszky nicht immer aktiv. Daher sind Infektionen zwar möglich, aber nicht der Regelfall. Nun kann ich verstehen, warum die Jäger ihre Hunde, für die das Virus tödlich ist, auch während der Jagd wie ihren Augapfel hüten. Deutlich wird mir deren Umsicht auch dadurch, dass mit größtmöglicher Hygiene vorgegangen wird und ihre vierbeinigen Begleiter nicht beim 'Strecke legen' anwesend sind. Jagd stellt also auch aktiven Seuchenschutz dar. Anschließend werden noch Proben auf den Nachweis der afrikanischen Schweinepest genommen.
Die Jäger stehen zusammen, Wortfetzen wie 'Kälte' und 'Nässe' dringen zu mir durch. Kältebedingt beginnt bereits die Abschlusszeremonie. Es wurden 26 Stück Schwarzwild erlegt. Jeder erfolgreiche Schütze unseres Gebietes wird namentlich erwähnt und bekommt einen Fichtenzweig verliehen. Abschließend ertönt das 'Halali' der Jagdhörner. Das Echo hallt, nach dem Absetzen der Instrumente, über das Land der offenen Fernen nach.
Ich gehe durchgefroren nach Hause und denke lange über diesen Tag nach. Bevor ich mich als Drücker verdingt habe, hatte ich keine Ahnung, was Waidgerechtigkeit bedeutet und musste bei Wikipedia googeln. Nach diesem Tag in der langen Rhön unter den Jägern weiß ich es nun: Es ist der Respekt vor dem Tier, der unbedingte Wille, es nicht leiden zu lassen und die Umwelt zu schützen. Nichts anderes habe ich an diesem Tag erlebt.
Johannes Schlereth