DJV-Position zur Gämse
Situation
Die Gämse ist im gesamten Alpenbogen natürlich verbreitet und lebt dort in Abhängigkeit von der Jahreszeit in Höhen von etwa 700 bis 2000 m ü. NN; höhere Lagen (Matten- und Felsregion) sind besonders während der schneefreien Zeit bevorzugt. Weitere Vorkommen der Alpengämse in Deutschland finden sich im Schwarzwald, auf der Schwäbischen Alb und in der Sächsisch-Böhmischen Schweiz. Für die Vorkommen in Baden-Württemberg lässt sich die Autochthonie historisch belegen. Die zwischenzeitlich ausgerotteten Bestände wurden aber durch Aussetzungen Anfang des 20. Jahrhunderts und in den 1930er und 1950er-Jahren neu begründet. Fernwechsel zwischen den Alpen und den Vorkommen in Baden-Württemberg sind belegt (Linderoth 2005).
Die Gämse lebt in Sozialverbänden, deren Zusammensetzung und Größe sich im Jahreslauf ändern. Für den Bestandserhalt sind das Geschlechterverhältnis und die Altersstruktur von entscheidender Bedeutung.
Die Listung in der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH-RL) im Anhang V ist mit der Verpflichtung verknüpft, einen günstigen Erhaltungszustand für diese Art sicher zu stellen. Mittels Monitoring muss der Erhaltungszustand der Gämse systematisch überwacht und regelmäßig überprüft werden, indem Daten zur Verbreitung, zum Zustand der Populationen und zu möglichen Gefährdungsursachen gesammelt und analysiert werden. Dieses Monitoring bietet auch die Voraussetzung für eine nachhaltige Bejagung dieser Schalenwildart. Es wird bisweilen jedoch nur in wenigen Regionen vorgenommen. Die Gämse gehört zu den im Alpenraum lebenden Arten der FFH-RL, die dem Jagdrecht unterliegen und sie wird regelmäßig und teilweise intensiv bejagt (Lang et al. 2016). Auch im Nationalpark Berchtesgaden findet eine Bestandsregulation außerhalb der Kernzone statt.
Rückgangsursachen und Konfliktbereiche
- Durch Freizeitaktivitäten (z.B. Skifahren, Schneeschuhwandern, Skitouren, Gleitschirmfliegen, Wandern, Drohnenfliegen) in ihrem Lebensraum wird das Raum-Zeit-Verhalten der Gämse gestört. Dabei sind Menschen, die sich abseits der Wege bewegen oder Störungen im Luftraum für Wildtiere schlechter einschätzbar und lösen im Vergleich zu weggebundenen und regelmäßig auftretenden Störungen höhere Fluchtdistanzen aus. Werden Wildtiere bei der Nahrungsaufnahme gestört, vermindert das ihre Energiezufuhr. Zudem erhöht das Ausweichen von der Störquelle (Fluchtverhalten) den Energieverbrauch. Ein erhöhter Energieverbrauch kann insbesondere während der nahrungsarmen Zeit im Winter vor allem für junge und alte Individuen lebensbedrohlich sein. So zeigte eine Studie aus der Schweiz, dass das Auftreten eines Gleitschirms bei Gamsgeißen eine Fluchtdistanz bis zu 900 m auslöste und die Gämsen bis zu vier Stunden im Wald verblieben (Schnidrig & Ingold 2001). Solche Störungen können somit die Waldschadenslage verschärfen.
- Der Wald ist ein natürlicher Bestandteil im Lebensraum der Gämse, die als Pflanzenfresser Einfluss auf die Vegetation nimmt. Der Verbiss an Gehölzen kann je nach Ausmaß und waldbaulicher Zielsetzung Schäden verursachen. Insbesondere im Bereich des Objektschutzwaldes stellt ein zu hoher flächiger Ausfall von Jungbäumen ein Konfliktpotenzial dar, da bei einem Fehlen des Waldes durch mögliche Lawinenabgänge und Hangrutschungen Siedlungen und Verkehrswege gefährdet werden. Daher wird versucht Gebiete der vordringlichen Schutzwaldsanierung möglichst wildfrei zu halten und in der Konsequenz wird dort auch Gamswild intensiv bejagt.
- Die menschliche Nutzung (Almwirtschaft, Forstwirtschaft) verändert den Lebensraum. Die Almwirtschaft beispielsweise schafft attraktive Wildlebensräume außerhalb des Waldes. Von diesem Äsungsangebot profitiert auch die Gämse. Allerdings können lange Beweidungsphasen und die Anwendung von Elektrozäunen dieses Äsungsangebot manchmal deutlich einschränken.
- Populationsverluste sind nicht nur durch Witterung (z.B. Lawinen) und Krankheiten (z.B. Gamsblindheit) bedingt, sondern auch durch den Einfluss von Großprädatoren wie den Luchs. Eine Schweizer Studie belegt, dass der Luchs überwiegend Kitze, Jährlinge und alte Gämsen jagt und ein sesshafter Luchs durchschnittlich 1 Gämse pro 2,9 km² und Jahr erbeutet. Im Vergleich dazu unterschied sich der Einfluss der Jagd auf die Sterblichkeit der Gämsen, weil der Mensch vor allem erwachsene Gämsen (≥2 Jahre) erlegt. Ohne Bejagung ist die Überlebenswahrschein-lichkeit von erwachsenen Gämsen natürlicherweise hoch. Weiterhin zeigte die Studie, dass nach einem harten Winter mit hoher Kitzsterblichkeit die zusätzliche Mortalität von nur wenigen erwachsenen Geißen eine Abnahme der Gamspopulation induziert (Vogt et al. 2019).
- Die Jagd ist ein weiterer wichtiger Mortalitätsfaktor, wobei die Vorgaben aus den jagdlichen Richtlinien (Jagd- und Schonzeiten, Altersklassifizierung) einen maßgeblichen Einfluss auf die Größe, das Geschlechterverhältnis sowie die Altersstruktur einer Gamspopulation ausüben. Eine Analyse von Streckendaten aus dem Lechquellgebiet zeigt, dass in forstlich sensiblen Bereichen Böcke der Jugendklasse (1-3 Jahre) bis zu 50% des Gesamtabschusses ausmachten und 50% aller Böcke außerhalb des Abschussplans erlegt wurden. Unter der Prämisse die Gams in diesen Arealen als „Schadwild“ fernzuhalten, werden durch Ausschlussgebiete von Gämsen und Schonzeitaufhebungen Streckenerhöhungen erreicht (Deck 2018). In Bayern soll im Rahmen der Schonzeitaufhebung nur eine punktuelle Vergrämung auf sensiblen Schutzwaldsanierungsflächen erreicht werden. Eine Absenkung des Gesamtbestandes wird abgelehnt.
- Die FFH-Richtlinie fordert in Artikel 11, dass der günstige Erhaltungszustand systematisch und regelmäßig überwacht wird. Da aufgrund der FFH-Richtlinie ein Verschlechterungsverbot gilt, darf die Bejagung nicht zur Gefährdung oder gar dem Erlöschen von Populationen führen. Voraussetzung für eine nachhaltige Nutzung der Gämse ist ein regelmäßiges Monitoring, das eine solide Datengrundlage schafft, um den günstigen Erhaltungszustand dieser Art zu überwachen. Ein solides Monitoring wird zurzeit nur sehr vereinzelt durchgeführt.
Forderungen des DJV
- Der zunehmende Nutzungs- und Freizeitdruck übt massive Störungen auf die Gamspopulationen aus. Saisonale Einstandsgebiete der Gämse und entsprechende Störeinflüsse müssen identifiziert und analysiert werden. Bei der Entwicklung von Freizeitangeboten im Lebensraum der Gämse sind die Bedürfnisse einer artgerechten Lebensweise der Gämse und anderer Wildarten ganzjährig zu berücksichtigen. Auf regionaler Ebene sind wildökologische Raumplanungen gefordert, um im Sinne des Wildtiermanagements die Lebensraumansprüche der Gämse mit den Nutzungsinteressen des Menschen in ein naturverträgliches Verhältnis zu bringen.
- Die Gämse muss im Gebirge mit härtesten Umweltbedingungen zurechtkommen, dies gilt besonders im Winterhalbjahr. Daher sind geeignete ungestörte Überwinterungshabitate in Südlagen auszuweisen d.h. Wildruhezonen, die frei von jeglicher Nutzung (Jagd, Wintersport u.ä.) sind. Initiativen wie die des Deutschen Alpenvereins „Skibergsteigen umweltfreundlich“ oder aus Österreich „Repektiere deine Grenzen“ haben hier Vorbildcharakter. Besonders auch in Zeiten ohne Schnee ist es wichtig, Wildruhezonen als Rückzugsgebiete, insbesondere in den Hochlagen, zu erhalten oder zu schaffen. Nur dort kann die Gämse dann ungestört Nahrung aufnehmen, ohne ständig in den Wald gedrückt zu werden, wo sie zwangsläufig Verbiss verursacht. Die positiven Beispiele aus Österreich und der Schweiz bzgl. der Ausweisung von Wildruhezonen und der Einschränkung des freien Betretens der Natur belegen einen deutlichen Rückgang des Wildverbisses durch Gämsen im Wald (BJV 2016).
- Unter der Prämisse der Schutzwaldsanierung erfolgt in vielen Sanierungsgebieten eine intensive Gamsbejagung mit Schonzeitaufhebung. Zudem schließen großräumig ausgewiesene Sanierungsgebiete oft den Winterlebensraum der Gämse ein. Auf diesen Flächen kollidieren die Ziele der Schutzwaldsanierung in vielen Fällen mit den Zielen des Tierschutzes, Biotop- und Artenschutzes, des Tourismus und der Waldweide. Daher ist eine kritische Überprüfung der Zielstellungen und der Schonzeitaufhebung in diesen Gebieten dringend gefordert.
- Die Gämse darf als FFH-Art, Anhang V, nur unter bestimmten Voraussetzungen jagdlich genutzt werden. Daher lehnt der DJV ein dauerhaftes Aussetzen einer Abschussplanung, die als Teil des Managementplans angesehen werden kann, ab. Jagdliche Richtlinien sind auf der Grundlage wildbiologischer Kenntnisse zu entwickeln. Damit eine natürliche Alters- und Geschlechterstruktur aufrechterhalten wird, ist eine Bejagung der einzelnen Altersklassen gefordert, die der natürlichen Sterblichkeit von unbejagten Populationen ähnelt. Der Abschussnachweis, d.h. die Streckenliste, ist den Vorgaben entsprechend bei beiden Geschlechtern auf Jugend-, Mittel- sowie Altersklasse vorzunehmen. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist eine Korrektur der Altersklasseneinteilung:
Klasse | Bock | Geiß |
---|---|---|
Kitzklasse | 0 | 0 |
Jugendklasse | 1-2 | 1-2 |
Mittelklasse | 3-10 | 3-12 |
Altersklasse | 11+ | 13 |
Das Geschlechterverhältnis muss im Abschussplan 1:1 sein.
- Ein Großteil des Abschusses sollte im August und September erfolgen, da in dieser Zeit das Gamswild in der Sommerdecke leichter angesprochen werden kann und führende Geißen besser erkennbar sind. Zudem ist dringend ein überhöhter Eingriff in die Mittel- und Altersklasse der Böcke zu vermeiden, da dadurch der Gesamtbestand negativ beeinflusst wird. Gemäß der Hege- und Bejagungsrichtlinie ist die mittlere Altersklasse weitestgehend zu schonen. Nur dann können genügend Stücke in die oberste Altersklasse einwachsen, was bei langlebigen Wildarten wie Rot- und Gamswild für das Sozialgefüge notwendig ist. Gibt es in einer Population zu wenig alte Böcke, ist das Brunftgeschehen gestört. Zum einen verausgaben sich die jungen Böcke aus Konkurrenzgründen stark, was zu einer hohen Wintersterblichkeit führt. Zum anderen werden nicht alle Geißen beschlagen und das Brunftgeschehen zieht sich über einen längeren Zeitraum hin. Die später gesetzten Kitze haben weniger Zeit Reserven aufzubauen und gehen mit schlechterer Kondition in den Winter, was in der Kitzklasse die Sterberate erhöht.
- Die Verlustquote verursacht durch Prädation (z.B. Luchs) und durch Wintersterblichkeit muss bei der Abschussplanung berücksichtigt werden.
- Vor dem Hintergrund der Wildschadensproblematik im Wald und den zu beobachtenden Bestandsrückgängen der Gämse fordert der DJV die Zusammenarbeit mit anderen Landnutzern. Durch ein Angebot ausreichender Äsungsflächen können Wildschäden im Wald verhindert werden. Der Erhalt der Almwirtschaft und die Bewirtschaftung von Almflächen oberhalb der Baumgrenzen spielen hier eine große Rolle. Es sollten einzelne Almflächen bereits Anfang September aus der Beweidung genommen werden, damit das Gamswild außerhalb des Waldes Äsung findet. Zu beachten ist allerdings, dass die staatliche Weideprämie nur bei einer Weidezeit von vier Monaten frühestens ab dem 15. Mai vollständig ausbezahlt wird (KULAP 2019 B60).
- Nur durch ein solides Monitoring, das die Grundlage für ein Wildtiermanagement ist, kann eine nachhaltige Nutzung der Gämse gewährleistet werden. Da auf Zählungen unkalkulierbare Faktoren (Wetter am Zähltag, Wildaktivität) Einfluss nehmen, aber auch grundsätzlich hemmende Faktoren wie Geländestruktur und Bestockung des Lebensraumes bestehen, sind Zählungen alleine für eine Bestandseinschätzung ungenügend.
Aus Sicht des DJV muss das Monitoring folgende Anforderungen erfüllen:
Die Erfassung der Population sollte aus einer Kombination von Jagdstreckendatensammlung, Kohortenanalyse und Experteneinschätzung vorgenommen werden. Genetische Verfahren und Einsatz von Wildkameras können die Populationsschätzung in kleineren Vorkommensgebieten unterstützen (Herzog 2019).
Über die räumliche Erfassung der Abschüsse sowie weiterer Fallwildfunde (z.B. Tierfundkataster) kann auch in regelmäßigen Abständen die Verbreitung der Populationen erhoben werden (MLR 2019).
Die Festlegung der Abschusspläne muss sich an den Monitoringergebnissen orientieren. Reviere, die sich wiederholt nicht am Monitoring beteiligen, sollten von der Abschusszuteilung ausgeschlossen werden.
Zur nachhaltigen Bewirtschaftung der Gams ist es erforderlich Bestandsentwicklungen auch auf regionaler Ebene einschätzen zu können. Hierzu sollten in einem maximal 3-jährigen Rhythmus die lokalen Monitoringergebnisse zusammengeführt werden.
Quellen:
BJV Bayrischer Jagdverband, (Hrsg.; 2016): Heimatwild Alpengams nachhaltig erhalten. Symposium 27. und 28. Oktober 2016, Kufstein. Schriftenreihe des Landesjagdverbandes Bayern e.V.; Band 24.
Bayrisches Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (Hrsg.; 2019): Bayerisches Kultur Landschaftsprogramm (KULAP) Merkblatt B60 – Sommerweidehaltung (Weideprämie).
Deck, O. (2018): Gamsfreiheit - Zielkonflikte in Gamswildlebensräumen im Lechquellengebirge und deren Auswirkungen auf den Gamsbestand. Masterarbeit. Universität für Bodenkultur Wien.
Deutsche Wildtierstiftung (2018): Schutzwaldsanierung im Gamsrevier – Beispiele für Zielkonflikte.
Herzog, S. (2019): Wildtiermanagement, Grundlagen und Praxis. Quelle& Meyer Verlag, Wiebelsheim, S. 38-59.
Ingold, P.; Boldt,A.; Bächler, E.; Enggist,P.; von Arx,M.; Willisch, C. (2002): Tourismus und Wild. Schlussbericht 1997 – 2002. Arbeitsgruppe Ethologie und Naturschutz, Zoologisches Institut, Universität Bern.
Lang,J.; Miller, C.; Kinser, A. (2016): Der Anhang V der FFH-Richtlinie – Bedeutung und Konsequenzen für jagdbare Arten. Workshop – abstract. Gamssymposium Kufstein 27.-28.10.2016.
Linderoth, P. (2005): Gamse Rupicapra rupicapra (Linnaeus, 1758). In: Braun, M.; Dieterlin, F. (Hrsg.): Die Säugetiere Baden-Württembergs. Band 2, Ulmer Verlag, Stuttgart.
MLR 2019: Wildtierbericht für Baden-Württemberg 2018, Ministerium für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz (Hrsg.), Stuttgart.
Reimoser, S. (2013): Störung von Rot- und Rehwild. Teil 1-4. Weidwerk Nr. 9-12.
Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (Abl. EG Nr. L 305/42) [Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie, FFH-RL].
Schnidrig-Petrig, R.; Ingold, P. (2001): Effects of paragliding on alpine chamois Rupicapra rupicapra rupicapra. In: Wildlife Biology 7 (1), S. 285–294. DOI: 10.2981/wlb.2001.033.
Vogt, K.; Signer, S.; Ryser, A.; Schaufelberger, L.; Nagl, D.; Breitenmoser, U.; Willisch, C. (2019): Einfluß von Luchsprädation und Jagd auf die Gämse – Teil 1 und 2. Bericht in Zusammenarbeit mit dem Jagdinspektorat Bern. Kora Bericht Nr. 84, Kora, Muri bei Bern.
Zandl, S.& M. (2017): Almwirtschaft schafft Wildlebensräume. Salzburger Bauer 10. August 2017: 8,9.